Meine Mutter ist an Demenz erkrankt.
Oft lese ich in Ratgebern, daß der Mensch, der an Demenz erkrankt ist, immer mehr seine Identität verliere: mit dem Gehirnschwunde schwinde auch die kognitive Fähigkeit und die Persönlichkeitsstrukturen. Wortfindungsstörungen, Sprachstörungen, Orientierungsstörungen, Stimmungsschwankungen – ja, das alle hat meine Mutter. Der Alzheimer ist bei ihr schon sehr fortgeschritten.
Neulich meinte sie, ich hätte eine Schwester (die ich nicht habe): eine strenge Schwester. Ich sei die milde, aber da sei auch noch die andere, die Strenge. Meine Mutter hatte also meine Persönlichkeit in zwei Individuen aufgespaltet – aber beides waren ihre Töchter.
Oft fragt sie mich, ob ich ihre Mutter oder ihre Schwester sei. Sie erkennt meine Persönlichkeit nicht mehr, bzw. sie kann die Rolle meiner Persönlichkeit nicht mehr in Bezug zu ihrem Leben stellen. Doch stets „erkennt“ sie das Wesentliche an meiner Rolle: Ich sorge um sie und bin ein guter Mensch – ob strenge oder milde Tochter, ob Schwester oder Mutter.
Oft lese ich in Ratgebern, dass man Demenz-Kranke im fortgeschrittenen Stadium über Gefühle erreichen kann: Liebe, Mitgefühl, Aufmerksamkeit, Freude… Das stimmt. Man kann das so sagen. Doch mir scheint, daß meine Mutter mich noch immer und auch so stabil als die Gute in ihrem Leben wahrnimmt, weil ich im Guten verankert bin. Ich „leide“ zwar selbst auch unter Stimmungsschwankungen, doch diese sind flüchtig und nicht wesentlicher Bestandteil meiner Identität. Mein Höheres Selbst strahlt durch meine niederen Vehikel (Körper) und kommuniziert mit dem Höheren Selbst meiner Mutter. Das ist die Konstante in unserer Kommunikation und die gibt meine Mutter die Sicherheit, so daß sie mich stets grundsätzlich richtig einordnet und positiv bewertet.
Wie lange wird das noch so gehen? Denn, so wie ich es verstanden habe, ist unser Gehirn der Bildschirm oder das Instrument (zumindest eines davon) mithilfe derer sich die Seele, d.h. auch das Höhere Selbst manifestiert. Wenn das Gehirn schrumpft, fehlen Teile des Instruments. Vielleicht aber gibt es Teile des Gehirns, die trotz Demenz intakt bleiben, vielleicht gerade jene, durch die das Höhere Selbst wirkt? Die Hypophyse? Die Epiphyse?
Und dann ist da noch die Nonnenstudie (seit 1986) der Universität Kentucky, durchgeführt von David Snowdon. 678 Nonnen des Ordens „Arme Schulschwestern unserer Lieben Frau“ im Alter von 75 bis 106 Jahren haben daran teilgenommen. Es ist die weltweit wichtigste Langzeitstudie zu Alzheimer. Untersucht wurden die Risiken, an Alzheimer zu erkranken. Viele der älteren Ordensfrauen hatten krankhafte Eiweißablagerungen im Gehirn, aber nur wenige erkrankten an Demenz. Dieses Ergebnis wiederlegt die klassische Theorie zur Hauptursache von Alzheimer. Die Vermutung der Wissenschaftler: neben der geistigen Stimulanz (die Nonnen waren bis ins hohe Alter als Lehrerinnen tätig) mindern Faktoren wie Sinnerfüllung, Lebensfreude und Einbindung in eine Gemeinschaft das Risiko für eine demenzielle Erkrankung.
Mir scheint jedoch, dass diese Gründe – Sinnerfüllung, Lebensfreude, Einbindung in eine Gemeinschaft – die Ursachen für den letzten Hauptgrund sind: das Höhere Selbst WILL sich durch die niederen Körper manifestieren, es WILL da sein, mitmachen, beitragen… Der Rückzug der Seele und der Verfall der Instrumente findet statt, weil sie keinen Sinn mehr sieht. Dieser Sinn kann sehr, sehr vielfältig sein, wie auch der Sinnverlust.